Mit diesem Bericht möchte ich vor allem eines versuchen: Mut machen und Kraft geben!
Den Mut, sich einer Therapeutin oder einem Therapeuten anzuvertrauen. Die Kraft, nicht aufzugeben, auch wenn die Liste der Angerufenen so lang ist wie die Wartelisten auf denen man am Ende des Telefonates steht. Den Mut, sich für Hilfestellungen zu öffnen und zu versuchen, diese umzusetzen. Die Kraft nicht aufzugeben, auch wenn es unmöglich erscheint oder es Rückschläge gibt.
Ich werde bald 42 Jahre alt, bin verheiratet, habe einen 6jährigen Sohn und leide seit über 12 Jahren an Bulimie. Nun kann ich mit großem Stolz vermelden, dass meine liebe Therapeutin und ich beschlossen haben, dass ich nach 1 ½ Jahren schwerer Arbeit soweit bin, meinen Weg ohne sie fortzusetzen. Das fühlt sich großartig an und allein dieses Gefühl ist es wert, jeden noch so steinigen Weg zu beschreiten!
Meine erste Therapieerfahrung machte ich vor ca. 8 Jahren. Ich geriet leider an eine Therapeutin, für die das Thema Essstörung nicht unbedingt das Spezialgebiet war. Anstatt mir eine geeignetere Kollegin oder einen geeigneteren Kollegen zu nennen, lies sie mich 2 Jahre lang 2 mal in der Woche auf ihrer Couch liegen und erzählen – in der Hauptsache, Dinge, die mich gerade so beschäftigten. Nach Hilfe lechzend und naiv wie ich war, nahm ich an, irgendwann würde der Knoten platzen und ich wüsste, was mir fehlt und vor allem, was ich dagegen tun könnte. Doch leider platzte gar nichts …
Als ich dann schwanger wurde dachte ich, dass doch nun die Ankunft eines Babys mich endlich heilen könnte, mich sozusagen „zur Vernunft“ bringen würde und brach die Therapie ab. Während der Schwangerschaft und auch die ersten Monate nach der Geburt gelang mir ein halbwegs normales Leben. Aber selbstverständlich achtete ich immer darauf, bloß nicht zu viel zuzunehmen und hatte die Hoffnung, dass ich durch die 6-monatige Stillzeit schon wieder Gewicht verlieren würde. Als das nicht passierte, hatte mich die Bulimie schnell wieder „gepackt“.
Wir hatten einen kombinierten Lauf-/Fahrradanhänger gekauft und ich ging jeden Tag mit meinem Sohn laufen oder Rad fahren, so 8 bis 9 Std. Sport in der Woche kamen da zusammen. Zusätzlich ernährte ich mich nur noch von Obst, Salat und Light-Produkten. Da das alles trotzdem nicht zum gewünschten Erfolg führte, erbrach ich fast jede Mahlzeit. Zusätzlich nahm ich Abführmittel, anfangs gelegentlich, später täglich.
Meine Gedanken drehten sich nur noch ums Abnehmen. Ich verbrachte Stunden mit Sport, Essen, Erbrechen. Doch ich hatte ein Kind zu versorgen, wir hatten zwischenzeitlich ein Haus mit Garten gekauft und ich arbeitete 2 volle Tage in der Woche. Woher sollte ich die ganzen Stunden nehmen, die ich brauchte, damit alles PERFEKT läuft?
Denn auch das war immer mein Minimal-Anspruch: Perfektion! Den perfekten Körper, die perfekte Mutter, die perfekte Ehefrau, den perfekten Haushalt, den perfekten Garten, perfekt im Job. Hinzu kam, dass mein Mann endlich seinen Traumjob gefunden hatte, das führte aber dazu, dass er immer nur alle 10 – 14 Tage für ein paar Tage zu Hause war, er mir also nur noch bedingt bei allem helfen konnte. Aber da ich nun einmal so perfekt sein wollte, musste das doch trotzdem irgendwie alles klappen!
Dann bekam ich über meine Schwägerin Informationen über das Weight-Watcher-Prinzip und lies mir die für mich gültige Punktzahl ausrechnen, um abnehmen zu können. Krank wie ich war betrog ich natürlich ständig, unterschritt die geforderten Punkte und rechnet auch den täglichen Sport nicht an. Ich nahm endlich ab, fühlte mich aber zunehmend schlapp und müde. Meine Beine kribbelten und an manchen Tagen dachte ich, ich käme gar nicht aus dem Bett heraus.
Durch mein mir außerdem auferlegtes ständiges Verbot von Süßigkeiten aller Art litt ich unter extremen Heißhungerattacken auf Schokolade und Kuchen. Durch die häufige berufliche Abwesenheit meines Mannes gab es niemanden, der mich kontrollieren konnte. So brachte ich abends mein Kind ins Bett und fing an zu essen. Und noch während ich anschließend über dem Klo hing, um alles wieder loszuwerden, versprach ich mir, dass es wirklich das letzte Mal war.
Ganz besonders schlimm war es, wenn mein Sohn zwischendurch wach wurde und nach mir rief. Er sollte natürlich auf gar keinen Fall etwas mitbekommen. So spülte ich mir ganz schnell den Mund aus, wischte mein Gesicht ab und lief zu ihm. Nachdem ich ihn beruhigt hatte, lief ich schnell wieder ins Bad und übergab mich weiter. Ich fühlte mich so schlecht dabei!
Solche Situationen brachten mich schließlich dazu, einen weiteren Versuch zu unternehmen, mir professionelle Hilfe zu suchen. Leider, leider ist es wirklich extrem schwer überhaupt einen Termin für ein Erstgespräch zu erhalten. Die Terminkalender der von mir angerufenen Therapeutinnen und Therapeuten platzten aus allen Nähten und außerdem hielten mich manche wg. meines „hohen“ Alters für nicht therapiefähig … Und jedes Mal war es wieder ein innerer Kampf – bloß nicht aufgeben, die nächste Nummer anrufen und noch einmal die Geschichte erzählen und noch einmal um einen Termin bitten.
Und ich habe nicht aufgegeben und hatte riesiges Glück eine so tolle Therapeutin gefunden zu haben. Endlich hörte mir jemand zu und gab mir sogar Antworten! Erklärte mir, dass es gar nicht so sehr ums Essen geht, sondern darum herauszufinden, was ich in meinem Leben als wirklich zum Kotzen empfinde! Dass perfekt sein ätzend ist und keiner sich bei jemanden wohl fühlen kann, der ständig alles wegräumt und immer an alles denkt! Und vor allem auch, dass ich nur dann bekomme was ich will, wenn ich sage, was ich brauche. Denn immer enttäuscht zu sein, weil z. B. mein Mann meine Gedanken nicht lesen kann, ist auch zum Kotzen.
Wir redeten viel über meine Zeit als Kind und Jugendliche und fanden heraus, dass mir gerade in dieser entscheidenden Zeit viel zu Hause gefehlt hat und ich im Grunde immer darum gekämpft habe, neben meinem scheinbar perfekten (da haben wir es wieder…) Bruder zu bestehen. Oft hatte ich den Eindruck, ich sei nicht gut genug. Ich fühlte mich allein in meiner Familie. Vor 12 Jahren trennten sich dann meine Eltern. Ein Paukenschlag. Niemand, weder mein Bruder, noch ich, noch unser gesamtes Umfeld hätten damit gerechnet.
Das perfekte Paar, das konnte doch nicht sein! Mein Vater wollte ein neues Leben mit einer anderen Frau, meine Mutter war am Boden zerstört. Wie es häufig so ist, übernahm ich als Tochter alle Fürsorge für meine Mutter. Vor lauter Sorge verbrachte ich mindestens einen Tag am Wochenende mit ihr, wir fuhren gemeinsam in den Urlaub, auch später, als ich längst verheiratet war. Ich machte mal wieder viel zu viel und hatte doch nie das Gefühl, das es reicht.
Auch mit meinem Ehemann gab es Probleme. Einige ganz sicher, weil ich eben auch in der Ehe und als Mutter selten das Gefühl hatte, ich wäre ausreichend. Die meisten aber, weil wir viel zu wenig geredet haben. Wir haben ½ Jahr eine Eheberatung gemacht und hilfreiche Tipps für uns mitgenommen. Vor allem aber den, dass es ohne Reden einfach nicht geht. Über alles, frei von der Leber weg. Und auch ganz wichtig: Gegenseitiger Respekt dem Ehepartner gegenüber, und zwar als eigenständige Person und nicht als jemanden, den man sowieso schon in und auswendig zu kennen glaubt.
Dann die nächste Baustelle: Unsere Wohnsituation. Unser Haus hatten wir uns zwar wirklich schön und mit Liebe renoviert, es stand nur nicht an der richtigen Stelle. Wie so oft dachte ich, dass ich damit schon klar kommen würde mit der Zeit … Dann noch unerträgliche Nachbarn, die einen beobachten und alle möglichen Verordnungen in den Briefkasten stecken. Ich fühlte mich viele Jahre sehr, sehr unwohl.
Mittlerweile haben wir unser Haus verkauft, ein neues Haus gekauft und freuen uns schon sehr auf den Umzug. Das war schon eine anständige „Gehirnwäsche“! Zusätzlich empfahl mir meine Therapeutin auf jeden Fall einen Aufenthalt in einer geeigneten Reha-Klinik, damit ich endlich wieder normales Essen lernen würde.
Das bedeutete natürlich einen extremen Verwaltungsaufwand. Formulare ausfüllen, ärztliche Atteste und Gutachten einholen und vor allem die Suche nach einer guten Klinik, in die ich auch meinen Sohn mitnehmen konnte.
Wieder war viel Kraft und Mut nötig. Ich musste schließlich auch von der Arbeit 6 Wochen freigestellt werden, den meisten Kolleginnen und Kollegen erzählte ich einfach, ich würde zur Mutter-Kind-Kur fahren und hätte anschließend noch Urlaub. Wobei ich meinem Chef und einigen engeren Kollegen die Wahrheit erzählte, ich bin schließlich nicht kriminell oder habe eine ansteckende Krankheit. Ich fand tatsächlich genau so eine Klinik und es war das Beste, was ich tun konnte und meine Therapeutin könnte ich heute noch umarmen für diesen Rat.
Denn nur in der wirklich geschützten Umgebung einer Klinik fühlte ich mich in der Lage, auszuprobieren was passiert, wenn ich wie ein „normaler“ Mensch esse, nicht erbreche,
keine Abführmittel nehme und sogar 2 Wochen ohne Sport auskomme. Meine Einstellung war: Gut, ich habe nun lange genug bewiesen, dass ich nicht weiß, wie es geht. Nun sollen die Profis mir mal sagen, was ich tun soll, ich gebe mich ganz in deren Hände. Nur damit funktioniert es. Es bringt nichts, zu schummeln. Betrügen tue ich am Ende nur mich selbst.
Mein Wunsch war, dass mein Körper und ich wieder Freunde werden. Dass er mir all den Mist, den ich ihm angetan habe, verzeihen kann. Er soll schließlich noch eine
Weile halten.
Und was soll ich sagen? Es hat geklappt. Das war natürlich kein Spaziergang. Und ich war wirklich froh, dass ich 6 Wochen Zeit hatte, wobei ich ursprünglich dachte, dass ich diese Zeit nie brauchen würde … leider weiß ich, dass die Rentenversicherung häufig nur einen 4wöchigen Aufenthalt genehmigt, das ist wirklich schade.
Jedenfalls hat diese Zeit dazu geführt, dass ich einen tollen Ernährungsplan habe (2.300 kcal am Tag!) mit dem ich mein Gewicht halten kann. 2 bis 3 Mal Sport in der Woche reicht völlig aus. Abführmittel braucht man nicht, wohl aber ausreichend zu trinken. Und ganz wichtig: KEINE Light-Produkte und kein Süßstoff mehr! Das schmeckt doch eh alles nicht und macht vor allem nicht ausreichend satt!
Meine Familie und Freundinnen gehen wieder gerne mit mir essen, weil ich mir ganz sicher nicht nur Wasser und einen Salat bestelle. Natürlich ist mein Kampf nicht zu Ende. Es können immer Situationen auftauchen, die schwierig sind. Doch ich weiß, dass das Monster Bulimie mir ganz sicher nicht dabei helfen wird.
Und sollte es doch einmal zu einem Rückfall kommen, denke ich an einen Rat aus der Klinik: Für jeden Tag ohne Rückfall gibt es 1 Münze. Für einen Rückfall gibt man 1 Münze zurück, nicht den ganzen Haufen, den man sich vorher so mühsam erarbeitet und verdient hat. Und wenn ich meinen Sohn und meinen Mann so ansehe, dann weiß ich noch 100
Mal mehr, wofür ich das alles getan habe …