Weil es nicht mehr weiterging
Würde ich gefragt, warum ich eine Psychotherapie gemacht habe, meine Antwort wäre: „Weil es nicht mehr weiter ging!“
Es wollte und konnte so einfach nicht mehr weiter gehen. Eigentlich wusste ich gar nicht so recht, wie es tatsächlich gekommen war, aber plötzlich war das überdeutlich, was sich über Wochen und Monate hingezogen und gesteigert hatte: Jetzt schien mir alles bleischwer und grau verhangen, die Zukunft wurde zur drohenden Gewitterfront, die sich einfach nicht ergießen wollte, sondern einfach nur vor mir schwebte und sich unendlich machtvoll ausbreitete. Jedes Aufstehen wurde zum morgendlichen Ringkampf – ich wusste nicht, wo sich all meine Energie hinverkrochen hatte, was ich tatsächlich fühlte und wie das Leben überhaupt noch eine Freude sein konnte. Dabei lebte ich glücklich in Beziehung, hatte Freunde und Familie. Gut der Studienabschluss lag noch nicht lange zurück, die erste befristete Beschäftigung war beendet und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es nun einfach nicht mehr weiter gehen wollte.
Bei einer Familienaufstellung wurde mir deutlich, dass es viele offene Fragen und ungeklärte Dinge gab, die mich verwirrten und ratlos zurück ließen. Doch an eine Therapie konnte und wollte ich zunächst nicht denken. Zu groß war die Hürde: Ich doch nicht! Eine Therapie ist ein Eingeständnis für Schwäche, eine Bitte um Hilfe, wo ich doch bislang alle Schwierigkeiten selbst und oft allein gelöst hatte. Und überhaupt – was sollte ich bloß der Familie sagen?
So war die erste Aufgabe – die mir übrigens tatsächlich als Arbeitsauftrag von der die Familienaufstellung betreuenden Therapeutin gestellt wurde – alle meine Für- und Wider gegenüber einer Therapie aufzuschreiben. Ich war erstaunt, dass trotz aller Bedenken auch ein tiefes Bedürfnis bestand nach – ja wonach eigentlich? Nach so etwas wie einem Loskommen von der bleiigen Schwere, dem „Gute Miene zum bösen Spiel machen“ und dem Wunsch jemand zu finden, der mich möglicherweise besser verstehen konnte, als ich es damals selber tat. Also gab ich meinem Herzen einen Ruck und war endlich mutig genug, um die Krankenkasse anzurufen und mir eine Therapeutenliste schicken zu lassen. Was mochte die Serviceberaterin am anderen Ende der Telefonleitung wohl denken – auch das waren Gedanken, dir mir dabei durch den Kopf gingen.
Als ich die Liste dann in der Hand hielt, stellte sich mir sodann die nächste Hürde – wie sollte ich auswählen? Woher sollte ich wissen, welche Therapieform die richtige ist, welche Therapeutin einen Platz hat und wer überhaupt zu mir passt? Sollte ich lieber bei „A“ beginnen oder bei „Z“ oder lieber doch in der Mitte, weil jede oder jeder Therapiesuchende entweder beginnt die erste oder aber die letzte Telefonnummer zu wählen und wie schrecklich, was würde ich dann am Telefon überhaupt sagen? Nach den ersten paar Anrufen wusste ich nicht, was schlimmer war: meinen Namen samt Nummer auf einem Anrufbeantworter zu hinterlassen und auf einen Rückruf zu warten oder gleich eine Absage zu erhalten, weil aktuell kein Platz frei war. Warteliste! Was sollte ich mit einer Warteliste, von 6 Monaten, wo ich doch jetzt nicht mehr weiter konnte? (Später irgendwann sah ich ein, dass ich im Verhältnis zu dem halben Jahr Wartezeit bei den Therapeuten selber viel zu lange gewartet und ausgehalten hatte, bevor ich mir Unterstützung suchte.)
Also telefonierte ich bis ich drei Termine innerhalb von zwei Wochen vereinbaren konnte und hatte plötzlich große Angst da überhaupt hinzugehen. Womöglich hatte ich mir doch alle Schwierigkeiten nur eingebildet und mit ein wenig mehr Anstrengung würde es vielleicht doch schneller behoben sein. Aber ich ging, denn insgeheim wusste ich, dass meine alleinigen Möglichkeiten – für den damaligen Stand – ausgeschöpft waren.
Die ersten Gespräche waren ungewohnt, ein bisschen wie beim Arzt, nur dass ich erzählen konnte, wie es mir sonst so ging und nicht einfach nur nach einer Krankschreibung wegen der Bronchitis fragte. Das war insgesamt ein neues und sehr komisches Gefühl: einer fremden Person zu erzählen, wie pechschwarz ich mich fühlte, wie trostlos und schwer. Ich erzählte drei Mal und jedes Mal war es anders – die Reaktionen der Therapeutin, die Einrichtung der Praxis, das Setting des Sitzens, die Atmosphäre im Raum, das Gespräch an und für sich und schließlich auch ich. Zu erzählen wie schlecht man sich fühlt und gleichzeitig formal zu regeln, welche Bedingungen (z.B. bei Süchten) auch die Therapeutin setzt, ob sie „Sie“ oder „Du“ sagt – das ist schon sehr ungewohnt, aber notwendig damit Grenzen geklärt und möglichen ersten Missverständnissen vorgebeugt wird.
Eine Therapeutin schied gleich aus – sie erinnerte mich an meine Oma und ich fühlte mich schrecklich unwohl. Blieben noch zwei – aber wie sollte ich entscheiden oder würde die Therapeutin dann doch sagen, dass es nicht ging? Wie entschied ich nun – oder wurde ich entschieden? Im Endeffekt schreckte mich das hohe Stundenkontingent der psychoanalytisch arbeitenden Therapeutin ab und ich blieb bei einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, ohne aber eigentlich grundsätzlich die Unterschiede zwischen beiden Therapieformen abwägen zu können. Bereut habe ich es glücklicherweise nicht.
Das erste halbe Jahr blieb die Therapie dennoch sehr schwierig. Es fiel mir schwer Vertrauen zu fassen und so fühlte ich mich weder wirklich verstanden noch gesehen, bis ich irgendwann erkannte, dass vor allem ich mich nicht sah und daher nicht die Themen in der einen Stunden je Woche ansprach, die mich tatsächlich bewegten. Manchmal war es auch wirklich nicht einfach herauszufinden, was mich innerlich bewegte. Die innere Kontaktaufnahme musste ich erst wieder üben.
Der Knoten platzte als mich die Therapeutin bat, für einen Antrag auf Langzeittherapie einige weitere biographische Daten zu mir, aber auch zu anderen Familienmitgliedern niederzuschreiben. Es war, als hätte nun zum ersten Mal jemand tatsächliches Interesse an meinem Leben und So-Geworden-Sein ausgedrückt und darüber eine Begegnung auf Augenhöhe bewirkt. Etwas löste sich dadurch in mir und ich erkannte, dass ich über das Schreiben in der Lage war meine eigenen inneren Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen, die mir bislang verschlossen waren. Die folgenden Monate waren geprägt von einem Prozess der kreativen Selbstfindung, dem Aufdecken von lebensbeschränkenden Fehlannahmen (z.B. Wenn Du bedürftig bist, ist niemand da.), die mein inneres wie äußeres (Er)Wachsen bislang verhinderten. Letztlich zählte auch das mühsame Überschreiten seither angstbesetzter Grenzen dazu. Über die Schriftsprache aber vor allem auch intuitives und unzensiertes Malen war ich in der Lage, Ereignissen aus meinem Leben eine Stimme zu verleihen, die mir endlich eine Verständigung ermöglichte. Alles, was ich z.B. über den frühen und so plötzlichen Tod meines Vaters – ich war damals 16 – nicht zu erzählen vermochte, floss in Bilder oder andere Texte und ich lernte u.a. zu verstehen, dass es ungleich viel schwerer ist jemanden tatsächlich loszulassen, mit dem man eine eher unerfüllte und ungeklärte Beziehung gelebt hat. Mir wurde deutlich, welche Rolle der fehlende äußere Vater für mein inneres Vaterbild bedeutete und was ich da an innerer Leere über die Jahre konserviert hatte. Allmählich kamen dazu auch die Gefühle. Das war nicht immer einfach – nun wieder Gefühle zu fühlen, die vorher versteckt, unterdrückt ohne Raum in mir waren. Ich war froh, mich auf die Begleitung der Therapeutin verlassen zu können ohne selbst verlassen zu sein und ebenso auf mein soziales Umfeld, das ich ebenso wie mich selbst noch einmal neu entdeckte und auch erweiterte.
Als das Fühlen kam, gingen Depression und Schwere. Was mir immer wieder noch begegnete, waren Ängste und auch Zweifel gegenüber meiner beruflichen Zukunft. Aber so als würde mit dem Lösen eines Knotens an einem Ende der Lebensgeschichte gleichsam etwas an einem anderen Ende bewegt, eröffnete sich mir mit der Zeit ein realistischer beruflicher Horizont. Ich fühlte mich das erste Mal so richtig tatkräftig und vor allem im Stande mir durch eigene Entscheidungen einen Weg zu bahnen, mit dem ich gut leben konnte. Selbst alle früheren Energiegefühle erschienen mir dagegen noch beladen gewesen zu sein und wie ein müdes Dahinschleppen.
Heute fühle ich mich lebendig, wohlwissend um die Unwägbarkeiten im Leben. Und ich bin dankbar aufgrund meiner Therapie auch in schwierigeren Alltagssituationen genügend Handlungsmöglichkeiten zu sehen, die mir stets zeigen, dass es weiter geht und selbst wenn nicht so wie bisher, dann aber gewiss anders.