Psychotherapie? Niemals!
Ich bin ein Mann über 40. Seit meinem 17. Lebensjahr komme ich für meinen Lebensunterhalt selber auf. Ich habe nie irgendwelche Hilfe in Anspruch genommen und habe mich selbst durchgeschlagen.
Und doch wusste ich schon sehr lange, dass irgendwas nicht stimmt mit mir. Teufel, die mich ritten, waren mir fremd und unerklärlich. Meine Stimmung wurde immer schlechter, ich fühlte mich immer wertlos, immer ungenügend und irgendwie fehl am Platz. Egal ob im Beruf oder privat. Auf den schönen Satz „Ich liebe Dich“ antwortete ich gerne „Das hast Du doch nur daher gesagt“. Womit eindrucksvoll belegt ist, dass meine Ungerechtigkeit gegen mich selbst, sich auch gerne gegen andere richtete.
Irgendwann wurde die Traurigkeit immer größer, ich funktionierte noch im Job, aber nur gerade so. Immer mehr begab ich mich auf die Flucht, die in merkwürdigen Handlungen, im Alkohol und ganz oft im Bett landete. Ein treffendes Bild meiner Depression:
Ich im immer abgedunkelten Raum, reglos im Bett, unfähig irgendetwas anzupacken, weil mir nichts mehr Freude machte und alles, was getan werden musste, auf eine befremdliche Art feindlich wirkte. Jahrelang schlug ich Appelle, mich doch mal um mich zu kümmern, eine Therapie zu machen, in den Wind.
Ich? Der ich immer alles geschafft habe, immer strahlend öffentlich auftrat, ich sollte meine Probleme nicht im Griff haben?
Dann trennte sich meine Ehefrau von mir. Alles schien in sich zusammen zu fallen. Nichts half, keine wohlmeinenden Freunde, keine Flucht, kein Ausweg in Sicht.
Endlich, endlich sprang ich über meinen Schatten und begann eine Therapie.
Alle Ängste, die ich vor der Therapeutin hatte, waren in Wahrheit Ängste vor mir selbst. Was würde wohl alles rauskommen über den schlechten Menschen für den ich mich hielt?
Der Fortschritt kam schnell, mein angeknacktes Selbstbewusstsein stabilisierte sich recht zügig.
Ich habe Glück gehabt, dass meine Therapeutin (durch Empfehlung eines guten Freundes gefunden) mir von Beginn an sympathisch war. Vertrauen ist enorm wichtig, sein zu dürfen, wie man sich gerade fühlt. Mit Tränen, mit Zweifeln, schlicht mit größtmöglicher Offenheit in die Therapie zu gehen. Meine Ängste waren unbegründet, es gibt kein Muss, es gibt keine Verpflichtung sich komplett einem fremden Menschen zu zeigen. Was es zu besprechen gibt, habe ich immer selbst entschieden und fühlte mich auch nie auf peinliche oder gar verletzende Art von meinem Gegenüber durchschaut. Wenn dann nur auf sehr konstruktive Art.
Es ist überaus gesund, einmal die Woche sich in aller Ruhe hinzusetzen und ehrlich in sich rein zu hören: „wie geht es mir eigentlich?“. Einige Stunden habe ich vertrödelt, weil ich nur berichtete, was aktuell in meinem Leben passiert und wenig darauf geachtet habe, was die Ereignisse mit mir und meiner Gefühlswelt anstellen.
Es geht! Ich konnte wieder in mich rein hören und mich wieder finden, schlicht Kontakt zu mir bekommen. Der Riesenberg an Problemen ist abgetragen, natürlich haben wir Ursachen aufgespürt, aber um die zu wissen ist nur der halbe Weg. Viel wichtiger ist Frieden mit sich selbst zu finden, sich selbst anzunehmen.
Das war ein langer Weg, bis ich heute stolz sagen kann, es ist gelungen. Es ist natürlich nicht alles gut, aber alles deutlich besser. 2 Jahre hat das gedauert und ich habe mir vorgenommen, irgendein Ritual zu finden, das mir wenigstens einmal die Woche Ruhe genug ermöglicht, um mal ganz bei mir zu sein. Die Therapiestunde pro Woche werde ich sicher vermissen.
Eins wird mir aber sicher nicht mehr passieren: Viel zu spät zu bemerken, dass ich Hilfe brauche. Es ist weder ehrenrührig noch Eingeständnis von Unfähigkeit. Wenn ich mir einen Arm breche, warte ich ja auch nicht darauf, dass alles von selbst zusammen wächst. Um auf die Überschrift zurück zu kommen. Heute sage ich: Therapie? Jederzeit!